Florian Matzner

„99 Prozent des Bildervorrats…“


„Was meinen Sie, wofür Michelangelo die Ausführung der Sixtinischen Ka-pelle übernahm? Für Geld.. Neunundneunzig Prozent des Bildervorrats in unseren Köpfen wird produziert, um Wecker, Schraubenzieher, Motorräder oder Toastbrot zu verkaufen.“(1) hat Peter Greenaway vor nunmehr zehn Jahren ebenso realistisch wie provokativ konstatiert und damit der nie en-denden Diskussion, was sei denn nun Kunst, wo sei die Demarkationsli-nie zwischen sogenannter Kunst und sogenannter Werbung, ein zumin-dest vorläufiges Ende gesetzt.
Wenn es stimmt, dass die westlichen Industriegesellschaften in den ver-gangenen Jahren erschreckend problemlos den Übergang zur Informati-onsgesellschaft des 21. Jahrhunderts vollzogen haben – übrigens nahezu unbemerkt von ebenso ambitionierten wie machtlosen Gesellschaftswis-senschaftlern -, so stellen sich die noch vor weniger als 30 Jahren eviden-ten Fragen nach der Schnittstelle zwischen High Art und Low Art schon lan-ge nicht mehr. Künstler haben seit den späten sechziger Jahren mehr und mehr den öffentlichen Raum für sich und ihre Kunst wiederentdeckt und nutzen deshalb selbstverständlich die bereits ad hoc zur Verfügung ste-hende mediale Basis: die Plakatwand an der Strasse, den Screen in der U-Bahn, die Werbefläche auf dem Flughafen, den Billboard an der Haus-wand. – Noch 1969 jedoch musste ein Joseph Kosuth seine Vorgehens-weise konzeptuell und intellektuell rechtfertigen: „Ich wendete mich aus verschiedenen Gründen dem Gebrauch von Massenmedien als Darstel-lungsform zu. Sie trennen den Akt des Erschaffens von der physikalischen Form der Kunst, die man mit dem elitären Stil des Modernismus assoziiert. Weil man &Mac226;Kunst’ nicht an Orten vermutet, die der Werbung vorbehalten sind (z.B. Werbetafeln oder Zeitungsanzeigen), war sie nicht schon a priori als Kunst definiert, wie das bei einem Gemälde, einer Skulptur oder einer Fotografie der Fall ist. Es machte sehr deutlich, dass ein formalistischer Ansatz bei dem Werk absurd sein könnte. (...) So konnte ich das Erschaffen von Kunst trennen von dem herkömmlichen Verständnis davon, was Kunst sein könnte. So war meine Arbeit imstande, selber Fragen zu stellen über den kreativen Prozess an sich, was eine traditionellere Form von Kunst nicht kann. Außerdem spielte in diesem Zusammenhang der politische Aspekt eine Rolle. Meine Generation hatte im Jahre 1968 wichtige Fragen zu stellen an jede Form von institutionalisierter Autorität. Die Malerei schien uns weltfremd und elitär zu sein. Die Organe der Massenmedien zu nutzen, ohne sich den Massen anzubiedern (im Sinne von Walt Disney oder der Produktwerbung), war ganz in meinem Sinne.“(2)

„Die Organe der Massenmedien zu nutzen, ohne sich den Massen anzu-biedern“ – diese verblüffend überzeugende Aussage von Joseph Kosuth ist das Leitmotiv auch einer jüngeren Künstlergeneration auf der Suche nach subtilen oder provokativen, aber auch selbstverständlicheren Ein-satzorten im öffentlichen Raum, wie dies Heimo Zobernig formuliert hat: „Das Plakat ist ein Medium der Kunst wie viele andere auch. Das Plakat muß in erster Linie in der Konkurrenz der Plakate bestehen. Die Wahr-nehmung als Kunst ist mir bei einer Arbeit im öffentlichen Raum nicht wichtig, sie ist eine Leistung des Betrachters, der den Kontext mit her-stellt.“(3)
Mit der Ausstellungskampagne „Blind Spot“ wird diese Strategie allerdings beinahe konterkariert oder - im Umkehrschluss – noch einmal erheblich konzentriert. Erst seit der Ökologiebewegung der 80er Jahre, der die Mountain Bike-Sucht und Trekking-Manie gelangweilter Städter in den 90er Jahren folgte, fährt man am Wochenende „nach draußen“, „aufs Land“ – angeblich, um die Natur zu genießen, um sich in der Landschaft zu erho-len. Man will alles – nur keine Kunst, angebracht auf Plakatwänden, un-vermittelt präsentiert, ja geradezu landschaftszerstörerisch platziert: „Ästhe-tische Umweltverschmutzung“ hätte Joseph Beuys einmal mehr witzeln können.
Und trotzdem: „Vier Plakate werden realisiert, jedes einzelne Plakat der Kampagne wird also in einer Streuung von 200 Stück affichiert, was im Vergleich zur kommerziellen Affichierung in dieser Region einen durch-schnittlichen Streuwert ausmacht. Im Gegensatz zu den meisten künstleri-schen Plakatprojekten, wo Unikate platziert oder sehr kleine Stückzahlen affichiert werden, kann hier also von einem tatsächlichen Einklinken der Kunst in dieses Massenmedium gesprochen werden!“(4) Und weiter: „Vor diesem Hintergrund ist dann aber auch zu berücksichtigen, dass die Pla-kate in Niederösterreich vorwiegend im ländlichen Raum platziert sein werden, wo die Popularität des Werbemediums selbst wesentlich geringer ist als in der Stadt. Eine weitere Besonderheit betrifft die Klebeflächen in ihrem Umfeld vor Ort. Am Land werden Plakattafeln meist einzeln positio-niert, wobei sich durch die häufig seltsamen, quasi intimen Konstellatio-nen – an der Hauswand eines Dorfgasthauses oder im Heustadel eines Bauern – Konsequenzen auf die ästhetische Wirkung oder sogar Bedeu-tung der Sujets ergeben: Korrespondenzen also, die im großstädtischen Raum kaum anzutreffen sind...“(5)

Hier genau setzt der kleine, feine Unterschied an zwischen Werbung und Kunst, ein Unterschied, den nicht nur die Künstler mit ihren Arbeiten son-dern auch die Kuratoren mit ihren Konzepten setzen. – Wer kennt nicht den Unterschied in der Rezeption von Werbeplakaten, abhängig von ihrer Posi-tionierung in unterschiedlichen Kontexten: Der schnelle Blick aus der Stra-ßenbahn, das unkonzentrierte Erhaschen einer Werbefläche an einer roten Ampel aus dem Auto heraus, multipliziert und damit gleichzeitig verwischt durch Tausende andere visuelle Reize im öffentlichen Stadtraum steht in klarem Gegensatz zur vereinzelten Setzung einer Bildfläche(6) außerhalb von Ortschaften, an einer Landstrasse zum Beispiel – wie dies in Frank-reich oder Italien üblich ist -, wodurch sich das Einzelbild wie ein Loop in das visuelle Gedächtnis des Autofahrers einbrennt, bis es von der Aussa-ge des nächsten, - sagen wir – zwei Kilometer weiter positionierten Werbe-fläche und seiner Ikonografie abgelöst wird.

Wahrnehmungspsychologen sprechen hier von einer Verlangsamung der Rezeption des Mediums Bild und dies impliziert eine erheblich größere Nachhaltigkeit der optisch vermittelten Botschaft, noch verstärkt durch die Tatsache, dass der Betrachter an dieser konkreten Stelle – Dorfgasthof o-der Heustadel, Landstraße oder Wanderweg – diese Bilder nicht erwartet und vermutlich auch nicht wünscht – und gerade deshalb wird aus dem Störfaktor eines Blind Spot eine positive Rezeption: langsam und konzent-riert, nachhaltig und reflektiert. Doch die plakatierten Bilder – inszenierte Fotografien, Bild-Text-Videostills, scheinbare Dokumentarfotos ebenso wie herkömmliche Architekturfotografie – stellen zwar dem Betrachter konkrete Fragen, verweigern aber gleichzeitig eine Antwort: Sie sind Ausschnitte aus Erzählungen, kleine Absätze aus Buchkapiteln, fragmentierte Sätze, die das Vorher und Nachher der dargestellten Handlung verschweigen, ja gerade-zu verweigern: Wer wohnt hinter der „Fassade“ von Mittmannsgruber und Strauß? Was will der Schwarze in „Travelling“ von Roy Villevoje von mir? Wen sucht die Polizei in „Periphery“ von Tounaz Gregoric?
In einem städtischen – lauten, schnellen, kurzen – Präsentationskontext könnte sich der Betrachter die Lösungsfindung dieser bohrenden Antwor-ten ersparen, die Vielfältigkeit seines Bewegungsraumes ersetzt die visu-elle Reizüberflutung durch die benachbart nächste.(7) Im ortlosen Land-schaftsraum außerhalb der Stadt aber gelingt dem Betrachter diese Flucht nicht so einfach, denn es findet hier nicht die sekundenschnelle Ablösung durch die nächste Bildbotschaft statt. Beklemmend allein gelassen mit der rätselhaften Aussage der vereinzelt präsentierten Ikonografie bleibt ihm nur die konkrete Auseinandersetzung mit dem Inhalt des Plakats übrig: Der Betrachter selbst muß jenes Vorher und Nachher dieser großflächig über-mittelten Momentaufnahmen rekonstruieren, seine eigene Geschichte er-finden, die Antwort auf die provokativ gestellte Frage selbst finden, um den abgebildeten Nebenschauplatz in die Erzählraum einzuordnen – oder wie es die slowenische Künstlerin Marjetica Potrc einmal formuliert hat: „... da gibt es einen Dreh, denn wir sublimieren gerne die Wirklichkeit, oder nicht? Es ist nicht das Wirkliche, was da ist – da ist, was wir für das Wirkliche halten!“(8)

Anmerkungen

1 Peter Greenaway, 1993, zit.n. Jean-Christophe Ammann, Von Claudia Schiffer (H&M) über Oliviero Toscani (Benetton) zu BILD, in: Public Art – Kunst im öffentlichen Raum, ed. F. Matzner, Ostfildern 2001, S. 678-79.

2 Joseph Kosuth, Öffentlicher Text, in: Public Art (wie Anm. 1), S. 298-99. Vgl. dazu auch das Interview mit Kosuth in: Plakat. Kunst. Über die Verwen-dung eines Massenmediums in der Kunst, ed. Von O. Mittmannsgruber/M. Strauß, Wien/New York 2000, S. 169-75.

3 Heimo Zobernig, Interview, in: Plakat.Kunst. (wie Anm. 2), S. 232

4 Martin Strauß, e-mail an den Autor vom 28. Januar 2003.

5 Otto Mittmannsgruber/Martin Strauss, „Blind Spot“ - Plakatprojekt Nieder-österreich 2003, Pressetext, per e-mail an den Autor vom 29. Januar 2003.

6. Vgl. Dazu auch etwa die museale Präsentation von Werbung: Kat. Art meets ADSed. J. Harten/M. Schirner, Kunsthalle Düsseldorf, Ostfildern 1992, sowie Ammann, wie Ammann (wie Anm. 1), S. 680.

7 Vgl. dagegen Heimo Zobernig, Interview, in: Plakat. Kunst. (wie Anm. 2), S. 233-34: „Die Rezeptionszeit der Passanten ist kein Hinweis auf das komplexe Wissen, welche die Wahrnehmung gestaltet und ins Gedächtnis stellt. Für die verschiedenen Interessen gibt es wiederkehrende Muster, die schnell erkannt werden, das gilt auch für das Kunst-Plakat. Der quantitative Einsatz der Gestaltungselemente kann sowohl in der Reduktion wie in der Komplexität die gewünschte Aufmerksamkeit erreichen, egal ob für die Kunst oder nicht.

8 Marjetica Potrc, in: Florian Matzner, Künstlerumfrage, in: Basisarbeit, ed. Olaf Metzel, München 1999, S. 187.